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Unverfügbarkeit

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Wir sitzen an einem alten Holztisch im frisch bezogenen Büro von France Naturelle, als Reiseunternehmer Thomas Kötting mir „Unverfügbarkeit“ von Hartmut Rosa ans Herz legt. In dem 2020 erschienenen Buch beschreibt der deutsche Soziologe das Verlangen moderner Menschen, ihre Reichweite in der Welt zu steigern und die damit verbundenen Gefahr, sich immer weiter von ihr zu entfernen. Noch am gleichen Tag beginne ich zu lesen.

Ein paar Wochen später stehe ich vor dem Eiffelturm. Oft genug gesehen, oft genug fotografiert und doch kann ich mir den Weg dorthin bei keinem Parisbesuch verkneifen. Im angrenzenden Park das gewohnte Bild: Hunderte überstreckte Hälse richten sich auf den Turm, die Blicke ihrer Träger verdeckt von Display oder Kamerasucher. Ich denke an das Buch in meiner Tasche.

Laut Rosa neigen wir Menschen dazu, uns Dinge und Ereignisse aneignen zu wollen, anstatt im Moment zu verweilen und sie „wirklich“ zu erleben. Unsere Neigung zur Fotografie als unmittelbarer Momentaufnahme ist ein gutes Sinnbild für diese Eigenschaft.

Wenngleich ich liebend gerne fotografiere, teile ich Rosas Beobachtung. Gerade im Zuge nicht enden wollender Krisenberichterstattungen könnte ich mir manchmal nichts schöneres vorstellen, als ganz und gar im Moment versinken und das Weltgeschehen vergessen zu können. Gleichzeitig fällt es mir immer schwerer, genau dies zu tun. Jenny Odell widmet sich in dem Buch „Nichts tun“ den Herausforderungen der Aufmerksamkeitsökonomie, die eine von vielen möglichen Ursachen meines Konzentrationsmangels ist. Odell spricht davon, dass beispielsweise digitale Ablenkungen uns immer weiter vom „realen Leben“ entfernen und ruft – auch angesichts bestehender Krisen wie dem Klimawandel – zu absichtsvollerem Handeln auf.

Hartmut Rosa Unverfügbarkeit

Fokus und absichtsvolles Handeln würden auch dem Konflikt zwischen Resonanz und Verfügbarkeit entgegenkommen. Verfügbarkeit nimmt den Dingen laut Rosa ihnen die Resonanzqualität und lässt sie verstummen. So garantiert die Buchung einer teuren Reise keine Resonanzerfahrung vor Ort, keine Verbindung zum Geschehen. Genausowenig wird ein Bild des Eiffelturms die spätere Erinnerung an den Moment des Betrachtens intensivieren, wenn er niemals erlebt worden ist.

Das existenzielle Bedürfnis mit unserer Umgebung in Resonanz zu treten nennt Rosa Beziehungsbegehren. In dieser Suche nach Verbundenheit mit Mensch, Natur und Dingwelt beschreibt er eine menschliche Eigenart, die in modernen Gesellschafen immer mehr vom Objektbegehren ersetzt wird. Unwissend ob dieser langsam fortschreitenden Verschiebung und in Ermangelung von Alternativen, versuchen wir also unser Resonanzbegehren durch Konsum zu stillen und bleiben fortwährend unbefriedigt.

Angesichts von FOMO (fear of missing out), Overtourism und Bucket-Lists verstehe ich gut, warum Hartmut Rosas Theorien gerade Thomas als Reiseunternehmer beschäftigen. Als Kundinnen und Kunden setzen wir durch den Kauf Erwartungen an unsere Reisen. Dabei neigen wir dazu zu vergessen, dass ausgerechnet übersteigerte Erwartungshaltungen selbst das schönste Erlebnis zerstören können. Offenheit und die Bereitschaft, mit unserer Umgebung in Kontakt zu treten, können dagegen Erlebnisse kreieren, die auch ohne Fotografien ein Leben lang in Erinnerung bleiben.

Auf gerade einmal 130 Seiten sammelt Hartmut Rosa in „Unverfügbarkeit“ aufschlussreiche Beobachtungen gesellschaftlicher Phänomene der Gegenwart und inspiriert zum Weiterdenken und Hinterfragen. Angenehm unkompliziert formuliert und ohne zu viele Fachtermini motiviert der Text den kritischen Blick auf eigene Verhaltensmuster und macht Lust, praktisch wie theoretisch tiefer in das Thema Resonanz einzusteigen.

Larissa Lenze

Larissa bewegt sich zwischen Menschen, Marken und Medien. Als Kulturwissenschaftlerin und Marketingstrategin beobachtet sie Medien- und Zeitgeschehen und spricht mit Menschen, die es mit besonderen Impulsen bereichern.

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