Als hätten sie die Absicht, die Natur beim Übergang in den gerade einkehrenden Herbst zu unterstützen, wickeln sich pinke Schals um die Baumstämme am Rande der Straße in Richtung Detmold. Seit 1985 ergänzt strahlendes Pink die natürliche Farbenpracht des Monats Oktober. Weltweit platzieren in dieser Zeit Spendenveranstaltungen, Gespräche und Aktionen wie die pinken Schals das Thema Brustkrebs im gesellschaftlichen Diskurs und motivieren Menschen zum Gang zur Vorsorge.
Der Oktober ist Pink, Schwarz und Weiß
Mein Weg führt mich an diesem Tag ins Landestheater Detmold. Für knapp zwei Wochen sind hier Fotografien der Düsseldorfer Künstlerin Iris Edinger ausgestellt. Es ist Sabine Mirbach, die mich mit einem strahlenden Lächeln vor dem neo-klassizistischen Gebäude in Empfang nimmt. Seit Jahren setzt sich die Detmolderin dafür ein, dem Thema Brustkrebs mehr Sichtbarkeit in ihrer Heimat zu verleihen und ich erfahre, dass sie nicht nur Jahr für Jahr die Aktion mit den pinken Schals organisiert, sondern auch Iris Edinger und ihre Bilder nach Ostwestfalen geholt hat.
Als sich die Fahrstuhltüren öffnen und ich das Seitenfoyer des Theaters betrete, sehe ich die ersten Bilder gleich neben dem Titel der Ausstellung: „FUCK IT – I’M ALIVE!“ – unter diesem Ausruf fotografiert Iris Edinger seit 2019 Menschen im Kampf gegen Brustkrebs. Der größte Teil der Serie ist in schwarz-weiß entstanden. Diese künstlerische Entscheidung geht auf Edingers Anfänge in der analogen Fotografie zurück und erschien ihr angemessen, um der Sensibilität und der Tiefe der Thematik gerecht zu werden. Mal mittelformatig und mal überlebensgroß setzen die Fotografien so dunkle Akzente an den weißen Wänden der Räume und bringen ihre Protagonist*innen dadurch noch mehr zum Strahlen.
Ein Moment, der alles verändert
Als 2019 Marjorieth Sanmartin, eine guten Freundin von Iris Edinger, Brustkrebs diagnostiziert wird, weiß die Fotografin nicht, wie sie mit dieser Nachricht umgehen soll. Sprachlos und schockiert sucht sie nach Wegen, um ihre Freundin zu unterstützen. „Als Marjorieth die Diagnose erhielt war sie gerade schwanger mit ihrem zweiten Kind.“ erzählt Edinger während einer Führung durch die Ausstellung. „Natürlich war klar, dass ich ihr in jeder Form zur Seite stehen würde. Mit unserem gemeinsamen Freund, Jazek Poralla, kam dann die Idee, Marjorieths Weg fotografisch festzuhalten, um sie selbst und ihre Kinder einst an diese Zeit zu erinnern.“
Aus der ersten Einladung ins Studio entstand ein transformierendes Erlebnis für Sanmartin, Poralla und Edinger aus dem die Idee hervorging, diese Erfahrung auch anderen Betroffenen zugänglich zu machen. So suchte das Team nach weiteren Menschen, die es vor die Kamera zog. Aus einer Aufnahme wurde so eine ganze Reihe, die am 13.03.2020 in Düsseldorf ausgestellt werden sollte. Der damalige Lockdown verzögerte die Vernissage um mehrere Monate und machte die Veranstaltung in den Folgemonaten durch zahlreiche Einschränkungen zur Herausforderung. Doch trotz höchster Corona-Auflagen, Offspace-Location und einer Menge Unsicherheiten besuchten innerhalb von 3 Tagen über 200 Menschen die Ausstellung.
Körper und Sein
Das Feedback, das sie zu ihren Arbeiten bekommt, macht der Fotografin erstmals den künstlerischen Wert bewusst, den ihre Aufnahmen für Dargestellte und Besucher*innen haben. Es legt den Grundstein dafür, dass sie beschließt nach über zwanzig Jahren in Werbeagenturen endlich die künstlerische Karriere zu verfolgen, die sie sich immer erträumt hatte. Trotz Pandemie wagt Edinger den Schritt in die Selbstständigkeit und beginnt ein Studium der Fotografie und Medienkunst an der Kunsthochschule Essen, das sie bis heute verfolgt. „Es fühlt sich an, als wäre ich endlich dort angekommen, wo ich hingehöre.“ erzählt sie.
Die wiederkehrende Frage der Besucher*innen, warum auf den Bildern ebenfalls Männer dargestellt sind, macht Edinger stutzig. Erstmals wird ihr bewusst, wie wenige Menschen überhaupt wissen, dass auch Männer an Brustkrebs erkranken können. Sie beschließt, eine weitere Serie zu machen, die sie diesem Schwerpunkt widmen möchte. Im Mai 2023 findet sie vier Protagonisten, die sie fotografiert und noch im gleichen Jahr unter dem Titel „FUCK IT – IT’S MEN!“ im NRW-Forum Düsseldorf auszustellen gedenkt. Doch diese Veranstaltung soll weit über ihre bisherigen Präsentationen hinausgehen.
Healing Culture
„Während meiner Arbeit erlebe ich immer wieder, dass der Akt des Fotografiert-Werdens Menschen dazu bewegt, sich mit ihrem Körper und ihrer inneren Haltung auseinanderzusetzen. Im Fall der von Brustkrebs betroffenen Personen vor meiner Kamera, hat dieses Bewusstsein für mich eine ganz neue Ebene bekommen. Ich durfte beobachten, wie der künstlerische Prozess, an dem sie im Moment des Fotografierens teil hatten, ihren ganz persönlichen Veränderungsprozess unterstützte. Die Aufnahmen zu machen und später ausgestellt zu sehen, hat ihre Selbstwahrnehmung geschärft und sie auf andere Art mit dem was war, was ist und was wird konfrontiert.“ so Edinger. Die Fotografin merkt, wie das gemeinsame künstlerische Schaffen zur Annahme und Akzeptanz einer neuen Realität beitragen kann und damit einen wichtigen Schritt in der Heilung ihrer Protagonist*innen unterstützt. „Genau deshalb habe ich viele der Bilder überlebensgroß angelegt. Für mich haben sie ikonenhaften Charakter. Ihre Dimension soll die Vorbildfunktion der Dargestellten verdeutlichen und Betroffene dazu ermutigen, trotz des existenziellen Einschnitts im Leben mutig weiterzugehen.“ erzählt die Künstlerin. „Es geht darum, nicht aufzugeben und nicht zurückzuwollen in das alte Ich, sondern Veränderung zuzulassen und die Chance auf Erneuerung anzunehmen.“
Iris Edinger ist es wichtig, die Narben, die die Eingriffe bei ihren Protagonist*innen hinterlassen haben, auf ihren Bildern nicht zu verstecken. Hervorgehoben durch die Interpretation der Künstlerin soll sichtbar werden, dass jede Veränderung neben Schmerz und Verlust auch Schönheit enthalten kann. Dabei sollen ihre Fotografien kein Mitleid erzeugen, sondern Stärke zeigen, Schamgefühle auflösen und den Körper individuell und vielschichtig statt oberflächlich und scheinbar perfekt erfahrbar machen. Während ihrer Ausstellungen merkt die Fotografin, wie Menschen vor ihren Bildern zusammenfinden und Verbindungen entstehen. Die Aufnahmen und Veranstaltungen regen Austausch an und führen dazu, dass sich immer mehr Menschen mit dem Thema Brustkrebs befassen.
Mit Kunst bewegen
Mit diesem Wissen, schafft Edinger im Zuge der Ausstellung „FUCK IT – IT’S MEN! “ eine Plattform, in der Akteur*innen aus Kunst, Medizin und Therapie zusammenkommen. Sie nimmt sich vor, Aufmerksamkeit in der Gesellschaft zu schaffen, über die Erkrankung aufzuklären und einen Diskurs über die Möglichkeiten der Kunst zur Unterstützung von Heilungsprozessen anzuregen.
Mit diesem Anspruch organisiert die Künstlerin auch die aktuellen Ausstellungen während des Breast Cancer Awareness Monats Oktober. „Mir liegt es sehr am Herzen, das Kunstprojekt auch in den nächsten Jahren weiterzuführen. Neue Aufnahmen können allerdings erst entstehen, wenn Fördergelder dafür verfügbar werden. Bis dahin zeige ich die Bilder so oft wie möglich, um weiterhin Sichtbarkeit und Diskurs in der Gesellschaft für das Thema Brustkrebs zu generieren.“
Im Landestheater Detmold sind die Bilder von Iris Edinger noch bis zum 27.10.2023 zu sehen. Hier gehen alle Theaterbesucher*innen auf dem Weg zur Bühne an den Fotografien vorbei. Vom 29.10 – 5.11.2023 stellt sie außerdem in der Galerie Kunstforderer in Unna aus. Beide Veranstaltungen sind entstanden, weil engagierte Frauen die Arbeiten kennenlernten und in ihrer Stadt ausgestellt sehen wollten.